![]() | Geboren 1970 in Villeneuve-saint-georges () Lebt und arbeitet in Paris (Frankreich ) | Biographie Bibliographie Liste expositions |
Seitdem er die Kunsthochschule in Grenoble besucht hat, arbeitet Matthieu Laurette mit den Begriffen des öffentlichen und privaten Raums und zeichnet sowohl ein Hotel-Kapsel-Experiment in Japan auf (Simple Life, 1993) als auch ein Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem New Yorker Hotelzimmer auf einer 24-stündigen Reise (New York City Guest, 1993). Im gleichen Jahr, 1993 nämlich, erklärt er im Fernsehen seine Absicht, Multimediakünstler zu werden (Tournez Manège, TF1). Seit 1993 "erscheint" er in den Medien. Der Künstler tritt häufig in Fernsehsendungen auf, im Tiefenschärfenbereich, dort wo das normale Publikum nur Zierwerk ist. Mit Hilfe des Mediums der Wiederverwertung und der Videomontage tritt Matthieu Laurette aus der Isolation heraus. Neben seinen Apparitions [Auftritten] und nach der Etappe bei „Je passe à la télé" (France 3, 1996) wird er zu Fernsehsendungen eingeladen, in denen er zum Thema "wie kaufe ich rückvergütbare Ware ein" befragt wird. Er erklärt, wie man die besagten Produkte ausfindig macht, wie man sie bezahlt und wie man sich das Geld zurückgeben lässt. Matthieu Laurette kennt und akzeptiert die Regeln des Fernsehens. Er passt sich an das Einschaltquotensystem an, indem er nicht seinen Künstlerstatus, sondern sein Agieren im Alltag in den Vordergrund stellt. Das Fernsehen bedient sich seiner und umgekehrt. Matthieu Laurette nutzt Marketingflächen und- modelle des Handelssystems, um seine Arbeiten zu zeigen, - vom Fernsehen bis zum Internet, von der Presse bis zum Prospekt, vom Rundfunk bis zum Showroom. Weit davon entfernt, den Niedergang eines Wirtschaftssystems zu suchen, greift er zu den Waffen der Firmen, um eine Form gesellschaftlicher Haltung zu finden, die sich zwischen einer spielerischen und einer realistischen Einstellung bewegt, um sich den Konsumbereich zu Nutze zu machen und dessen Regeln anzunehmen. Er organisiert in Paris den Showroom Mangez remboursé (1998) [Essen Sie vergütete Produkte], der sowohl eine Ausstellung als auch eine Informationsfläche mit Supermarktführungen ist. In der Galerie Ghislain Mollet-Viéville bietet er Nourrissez un artiste à partir de 100 francs et faîtes-vous rembourser par les plus grandes marques! (Paris, 1998) [Verköstigen Sie einen Künstler mit einem Anfangsbudget von 100 Francs und lassen Sie sich von den größten Marken das Geld zurückgeben] an. Durch Nantes (1997) fährt ein Schaufensterwagen mit der Bezeichnung Vivons remboursés! [Lasst uns von rückvergüteten Produkten leben]. Die Aktion hat die Gründung der autonomen Vereinigung der "Consommateurs remboursés" [Verbraucher, die ihr Geld zurückerstattet bekommen] zur Folge, ein echtes Recycling seiner Arbeit. Im Internet werden auf der Webseite "Produits remboursées [rückvergütete Produkte] 1 "kostenlose" Menüs vorgestellt und erklärt, wie sie zu erkennen sind.
1995 wählt Matthieu Laurette als Schauplatz für seine Kunst eine Bibliothek in Grenoble aus: Er hinterlegt dort bis zum Jahr 2000 seine eigenen Bücher. Sie werden zu den anderen Leihbüchern gestellt (La Bibliothèque dispersée). Bei diesem Projekt, einer Mischung aus Stiftung und Leihe, wird jedes Jahr ein Listing herausgegeben, auf dem steht, wie oft seine Bücher ausgeliehen wurden, - eine exakte Einschaltquoten-Fernmessung über die Literatur" 2. Die Methode, aus der Entfernung zu arbeiten, setzt er auch in Artist's Studio Spycam (1997) im FRAC Languedoc-Roussillon ein: Dort konnte der Besucher der Ausstellung im Internet sehen, wie er in seinem Pariser Atelier arbeitet. Die Ausarbeitung des künstlerischen Werks wird zum Werk selbst: Der Zuschauer wohnt der Verwaltung seiner elektronischen Datei und dem Konsum von Produkten, für die er sein Geld zurückerstattet bekommt, live bei. Eine zukunftsorientierte Distanz auch im CCC von Tours, wo die Astrologin Elaine Soleil ihm seine berufliche Zukunft voraussagt (Projection, Eliane Soleil, Paris 10.06.98), work in progress einer subjektiven Vision.
Das Kabelunterhaltungsprogramm "Chaîne spectacle", das den Ereignissen vom Mai '68 auf ganz besondere Art gedenken möchte, bietet Matthieu Laurette eine Sendefläche an. Er startet mit einem Team des Senders eine Straßenumfrage auf den Champs-Elysées, dem Schaufenster der multinationalen Unternehmen. Er hält Passanten an und gibt ihnen Sätze von Guy Debord zu lesen: die Kritik der Unterhaltungsgesellschaft wird Teil der Unterhaltung.
Im November 1998 stellt er in der Galerie Jousse Seguin Free Sample aus, einem Raum, der sowohl in ein Lager als auch in eine Produktionsfirma umgewandelt wurde oder, - um die Formulierung aus der Ausstellungsbroschüre aufzugreifen - "eine Installation, in der verschiedenartige Gegenstände und Situationen in einem Bereich der Galerie miteinander vermischt werden. Alles muss verschwinden, von einem zweiten Reisepass… bis zu einer T-Shirt-Produktion... Free Sample mix, remix, demix vereint in der langen Version Gewinne, Verluste, Kostenloses, Investitionen, Muster, Katalogisierungen." Für den Katalog sammelt und präsentiert Hugues Royer, Biograph von Stars und Drehbuchautor von AB-Produktionen, Äußerungen von Personen, die dazu beigetragen haben, auf das Werk Matthieu Laurettes aufmerksam zu machen.
Seit 1998 gibt es im Internet die evolutive Webseite Citizenship Project 3, auf der Matthieu Laurette über den Erwerb einer neuen Staatsbürgerschaft nachdenkt. Es sollen die entsprechenden Gesetzestexte diverser Länder zusammengetragen und deren Lücken ausfindig gemacht werden. "Bei der Frage, wie man eine neue Staatsbürgerschaft erwirbt, interessiert mich die Form. Sie nimmt auf rechtlicher Ebene Gestalt an und wirkt sich auf den Alltag und die Wirtschaft aus."4
Sein Interesse für die Wirtschaft tritt auch deutlich in Le Grand Troc (El Gran Trueque, Bilbao, Januar 2000) zu Tage, eine Tauschaktionsreihe, an der man über Fernsehen und Internet teilnehmen kann 5, und die mit Veröffentlichungen in der Presse und der Verteilung von Prospekten an 150 000 Haushalte in Bilbao gekoppelt ist. Matthieu Laurette investiert einen Teil des Produktionsbudgets in den Kauf eines Wagens. Die Öffentlichkeit wird aufgefordert, eine Gegenangebot zu machen. Das höchste Angebot wird ausgewählt. Der so erworbene Gegenstand wird in der darauffolgenden Woche Gegenstand des neuen Tausches. El Gran Trueque fragt nach der Beziehung zwischen Medien und Markt und stört die Logik des Gewinns: die Tauschwerte fallen aus ihrem gewohnten Zusammenhang heraus.
Dominique Garrigues
1 www.labart.univ-paris8.fr/~laurette/
2 Alexis Vaillant, "On ne s'est pas déjà vu quelque part ?", Katalog Free Sample Demix, Paris, Galerie Jousse Seguin, 1998, S. 73.
3 www.culture.fr/culture/dap/entréelibre
4 "Economies parallèles", Blocnotes, Paris (France), Nummer 15, Juli 1998.
5 www.consonni.org/elgrantrueque