Biographie
„Was für mich zählt, ist das Wort der Anderen, dasjenige, was man nie hört„
Carole R. wurde am 25. Mai 1945 in Lausanne (Schweiz) geboren. In Sion (Wallis) hat sie ihre Kindheit verbracht. Nach einer klassischen Schullaufbahn beginnt sie mit dem Literaturstudium in der Schweiz, das sie in Paris fortsetzt. Dort lernt sie Paul Roussopoulos kennen, ein politischer Flüchtling aus Griechenland, Physiker, Maler, ihr Partner sowohl im Leben als auch im Aktivismus und beim Video, und der Vater ihrer beiden Kindern.
Sie arbeitet für das Magazin Vogue und nebenbei für das Magazin Jeune Afrique. 1970 verlässt sie den Journalismus und kauft sich auf Rat von Jean Genet ihre erste tragbare Videokamera, das berühmte Portapack von Sony. Sie macht sich sofort mit allen Möglichkeiten des Geräts vertraut, und nutzt dessen Leichtigkeit, Mobilität und geringe Kosten gegenüber dem filmischen Medium aus.
Sie beginnt zu drehen, und dann die Bilder zu schneiden. Die Arbeit am Schnitt ist am Anfang akrobatisch, aber Paul erfindet eine handwerkliche Methode mit Klebeband, Schere und einer Berechnung der Synchronität, die im militanten Videomilieu Schule macht wird. Das Drehen mit dieser Kamera bedarf kein grosses Team; oft hält Paul das Mikrofon und Carole die Kamera.
Mit Paul gründet sie 1970 eine kleine Videogruppe in Paris, die sich Video Out nennt. Im selben Jahr realisiert sie Jean Genet parle d’Angela Davis, und einen Film in palästinensischen Flüchtlingslagern: Hussein, le Néron d’Aman (die Kopie ist mittlerweile verschollen).
Auf der traditionellen Maikundgebung am 1. Mai 1970 filmt sie die erste Homosexuellen-Demo in Paris, und dokumentiert die Front Homosexuel d’Action Révolutionnaire auf ihren historischen Veranstaltungen an der philosophischen Fakultät der Universität Vincennes. Sie lässt ihre Kamera einfach laufen, und nimmt die Reden und Debatten ohne Schnitt auf. Sie verbindet die Kunst des Zuhörens und des Zuschauens mit einem seltenen Scharfblick. Auf einen Blick erfasst sie das Publikum, die Reaktionen der Zuhörer. Ihr Sinn für die Kamera, für den richtigen Standpunkt, für die gute Brennweite sichert die Relevanz ihrer Ideen beim Schnitt.
Sie macht ihre Erkenntnisse militanten Feministinnen zugänglich, indem sie Ateliers und Videoworkshops organisiert, welche zahlreiche Frauen anziehen. Bei dieser Gelegenheit lernt sie besonders Delphine Seyrig kennen, mit der sie eine lange Zusammenarbeit beginnt. 1976 drehen sie zusammen das bemerkenswerte kleine Pamphlet S.C.U.M. Manifesto.
Carole Roussopoulos verfolgt und filmt die Aktionen und Kämpfe der Frauen. Ihre Arbeit dient als Verstärker für die Kämpfe der Prostituierten aus Lyon, der Arbeiter der Lip-Fabriken, und für die Auseinandersetzungen zugunsten der Abtreibung und einer freien und kostenlosen Verhütung. Sie versucht sich weder in die Gruppen zu integrieren, noch mit den Personen, die sich filmt, zu identifizieren. Sie versucht lediglich eine Situation, eine Aussage so richtig wie möglich zu erfassen. Die internationalen Kämpfe setzt sie auf diese Weise genauso in Bilder um, wie den Kampf der Randgruppen, der Vierten-Welt, der Obdachlosen, oder die Kämpfe im Alltag (im Krankenhaus, im Seniorenheim), den Kampf der Mütter der baskischen Gefangenen, sowie all die Auseinandersetzungen der Frauen (Abtreibung, Gewalt, Schwangerschaftsverhütung, Vergewaltigung, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz).
Im Jahre 1982 gründet sie zusammen mit Delphine Seyrig und Iona Wieder das Centre Audiovisuel Simone de Beauvoir. Es ist das erste audiovisuelle Archiv, das sich der Geschichte und der Erinnerung von Frauen widmet.
Die Filmemacherin beobachtet und hört, ohne jemals zu kommentieren. Sie stellt unermüdlich die vorgefassten Ideen der Zuschauer in bezug auf polemische oder von den grossen Medien am häufigsten ignorierten Themen in Frage. In wenigen Minuten zeichnet sie einfliktschwangeren Situation auf, fängt einen Gedankengang ein, einen Diskurs, eine Art sich zu äussern, zu betrachten, zu arbeiten, oder zu gehen. Es handelt sich um eine authentische Untersuchung und nicht um eine formatierte Vorführung - sowohl was die Aufnahme, als auch den Schnitt betrifft.
In der Freundschaft wie in der Arbeit ist sie treu. Mit den Kameraleuten und den Toningenieuren arbeitet sie mit grossem Vertrauen zusammen, gibt im allgemeinen nur wenige mündliche Anweisungen. Während der Dreharbeiten versteht sie es, eine Passage wiederholen zu lassen, ein Licht zu verändern, eine anders aufzustellen, und diejenigen, die sie, tiefergehend zu befragen. Nichts geschieht automatisch, Carole Roussopoules bleibt aufmerksam und gegenüber der gefilmten Person immer präsent. Sei es mit den Prostituierten aus Lyon, mit den Lip-Arbeitern oder mit den vergewaltigten Frauen, entwickelt sie eine auf Dauer angesetzte Arbeit des Zuhörens. Sie dreht lange Gespräche, bleibt dabei sehr mobil und stets bereit, zu filmen, wenn ein Ereignis auftaucht.
In Zusammenarbeit mit den Gruppen und Vereinen behandelt sie die Fragen, deren sich die Feministinnen angenommen haben: Abtreibung, Verhütung, Vergewaltigung, Inzest. Die Filme werden vertrieben und werden zu die Hilfsmitteln von Debatten, zu Werkzeugen der Aufklärung. Sie arbeitet auch gerne mit oder für militanten Gruppen, Vereinen, Stiftungen oder Ministerien.
Ihre ersten Filme setzen den Rahmen ihres Werks, das heute mehr als 50 Filme zählt, für ihre Beziehung zur Welt. Das Wort der Anderen ist entscheidend. Der Kampf um fundamentale Rechte ist legitim. Der Mensch steht im Vordergrund.
In den 80er Jahren interessiert sie sich für die Stellung der Frauen in der Arbeitswelt. Sie beschäftigt sich mit deren Gewerken und dem Status nicht anerkannter Berufe (Landwirtin, Muschelzüchterin), kümmert sich um die Gleichberechtigung sowohl in der Landwirtschaft, als auch in der Atomindustrie.
Von 1987 bis 1994 leitet und verwaltet sie das Entrepôt, ein Ort, der drei Kinos, eine Buchhandlung und ein Restaurant beheimatet. Dort lernt sie den Beruf der Programmgestaltung für Kinos und der Geschäftsführung eines Restaurants.
In den 90er Jahren unternimmt sie eine breit angelegte Arbeit über die Krankheit, den Tod, den Schmerz, und die Begleitung von Sterbenden, sowohl seitens der Kranken, als auch der Pfleger.
1995 lässt sie sich wieder in der Schweiz nieder und beschliesst, wenig beachtete Themen im Ursprungsland zu filmen: die Gewalt gegen Frauen und Kinder, die Homosexualität. Sie arbeitet parallel an der Restauration ihrer ersten Videos.
Als sie um sich herum Frauen versterben sieht, die für die Rechte der Frauen gekämpft hatten, und die Verzettelung und den Verschleiss audiovisueller Archive über die feministische Bewegung feststellt, nimmt Carole Roussopoulos ein grosses Filmprojekt über die Freiheitsbewegung der Frauen in Angriff. Daraus entsteht 2000 der Film Debout! Une histoire du Mouvement de Libération des Femmes (1970-1980). Der Film feiert grosse Erfolge auf Festivals, wird in der ganzen Welt projiziert, und bekommt ein grosses und lobendes Pressecho.
1992 wird Carole Roussopoulos zur Chevalière des Arts et des Lettres und 2001 wird sie für 32 Jahre künstlerische Tätigkeit als Filmemacherin mit der Légion d’Honneur geehrt.
2003 hat sie noch immer zahlreiche Projekte im Kopf, darunter der zweite Teil des Films Debout! Une histoire du Mouvement de Libération des femmes.
Nicole Fernandez Ferrer